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Erinnerungen – Kapitel 5

Unser Leben in Schernberg, in Thüringen

Als ich vor einigen Tagen nach Fotos suchte, fiel mir ein altes Album in die Hände. Mein Vater hatte es im März 1949 für seine Mutter angefertigt. Damals brannte noch der frische Schmerz um den Verlust der Heimat in seiner Seele. Darum klingen die kleinen Texte zu den schwarz-weißen Bildern oft bitter und deprimiert.

Auf den eingeklebten Fotos erkennt man mehrere Schernberger Fachwerkhäuser, eine wehrhaft wirkende gotische Kirche, eine zerschossene Straße und eine verfallene Mauer. Man sieht den Weg zu unserer Wohnung, mit dem Holzstoß davor und den Schernberger Friedhof mit dem Grab seines Vaters.

„Schernberg“, steht auf dem vergilbten Papier mit blauer Tinte geschrieben und dann: „Hier sollte unsre Heimat sein? Doch manchem brach das Herz.“

Schernberg

Hier haben wir einmal gewohnt 1948/49

Auf der nächsten Seite sind mein Bruder und ich zu sehen. Wir sitzen neben einander auf einem Kissen im offenen Fenster. Es ist Sommer. Das Morgenlicht fällt gerade auf unsere hellen Lockenköpfe und auf die Gesichter. Der Text darunter versucht etwas tröstlicher zu wirken:

„Sie wissen nichts von deinem Leid. Sie sind voll Sonnenschein. Sie lachen dir die Sorgen fort und lindern deine Pein.“

Bis heute habe ich Schernberg in eher trauriger Erinnerung. Wir waren Fremde im Ort. Die thüringischen Bauern, die den Krieg ja auch gerade erst überstanden hatten, misstrauten uns. Sie verschlossen die Tore vor ihren Höfen. Und einmal wurde ein böser Schäferhund herausgelassen, der mich zum Glück nur in den winterlich-verpackten Hintern biss.

Daneben gab es aber auch liebenswürdige Menschen in diesem kleinen Ort. Eine Frau, die uns Ziegenmilch verkaufte, nachdem es keine andere Milch für uns Kinder gab. Oder eine Nachbarin, die uns Stoffpuppen nähte.

Und es gab Kinder-Faschingsfeste, wo wir uns verkleiden durften und Weihnachten mit den Verwandten, sowie auch manche Feier mit anderen Vertriebenen.

Bald erhielten wir ein größeres Zimmer mit einer Speisekammer, in der wir die „gestoppelten“ Kartoffeln und Äpfel, die wir gesammelt hatten, gut lagern konnten. Nach der Ernte durften wir auf den Feldern nach Kartoffeln „klauben“ und „Ähren lesen“. Zu Hause trampelten wir dann auf den verschnürten Säcken herum, um die Getreidekörner aus den Hüllen zu dreschen. Die Körner brachten wir in einem Leiterwagen zur Mühle. Oft wanderten wir auch ein Stück auf den Schienen, um nach verlorenen Kohlestücken der Dampf- Lokomotiven zu suchen.

Und abends, wenn die Stromsperre begann, saßen wir alle in warme Decken gehüllt auf den Betten und unsere Eltern erzählten uns Märchen oder andere Geschichten und sangen mit uns viele Lieder.

Trotzdem versuchte ich mehrmals als 4 Jährige auszureißen. Ich zog meinem kleinen Bruder den Mantel an und nahm ihn an die Hand, um mit ihm wieder nach Flöhau zurück zu kehren. Jedes Mal erwischte uns die Mutter aber noch rechtzeitig auf der langen Schernberger Straße…

Unser Vater arbeitete zuerst in einem Sägewerk, um das Geld zu verdienen, mit dem man leider kaum etwas kaufen konnte. Denn es gab nur Bezugsscheine für die viel zu knappen Lebensmittel. Erst durch den eingenähten Kaffee und die Zigaretten in den Paketen, die uns Vatis Schwester aus Amerika schickte, konnten unsere Eltern manches eintauschen.

Später sollte unser Vater die Baupläne für die neuen Polizeigebäude in der Kreisstadt Sondershausen zeichnen. Dabei wurde er so aufdringlich von der Geheimpolizei überwacht, dass er es nicht mehr aushalten konnte und beschloss, in den Westen zu fliehen. Unsere Mutter und wir Kinder wollten ihm bald nachfolgen.

P. S. Diese aufregende Flucht über die bereits bewachte „Grüne Grenze“ habe ich, leicht verfremdet, in dem Buch „Grenzwege“ geschildert.

P. S. Auf dem großen Gruppenbild sieht man oben von links, die Schwestern Frau Seipold und Frau Enz, daneben meine Mutter, meinen Vater. Unten sitzen mein Bruder Wiki und ich, daneben der kleine Peter Enz und der etwas ältere Manfred Seipold, der später Schauspieler in München wurde.

J. A.

2 Kommentare

  1. Dieses trotz persönlicher Betroffenheit „leicht“ geschriebene Tagebuch finde ich sehr schön!
    Es bringt viele Aspekte, die sicher auch andere Menschen betreffen, die in dieser Zeit Kind waren und alle Schattierungen zwischen traurig, spannend und fröhlich.
    Habe die Erzählungen gerne gelesen!

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