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Erinnerungen – Kapitel 6

Unsere Flucht in den Westen

Zweieinhalb Jahre lebten wir nun schon in Thüringen. Unser Flöhauer Großvater war gleich im Januar 1947 gestorben. Seine Witwe durfte im Zuge der Familienzusammenführung, zu ihrem zweiten Sohn in den Westen ausreisen. Auch Tante B. mit ihren drei Kindern konnte diese Möglichkeit nutzen. Einige Freunde hatten die Flucht über die „Grüne Grenze“ gewagt. Für uns aber wurde es immer einsamer, nachdem zuletzt auch noch Muttis ältere Schwester mit ihrer kleinen Tochter auf abenteuerliche Weise nach Westdeutschland geflohen war.

Nur wir konnten nicht fliehen, weil unser Vater, wegen seiner Arbeit für das neue Polizeigebäude mit den Gefängniszellen, ganz besonders überwacht wurde!

Eines Tages jedoch war auch er aus Schernberg verschwunden. Es hieß, dass er nur nach Sondershausen gefahren sei, wo er bei einer alten Dame Unterkunft genommen hätte, um näher am Arbeitsplatz zu sein.

Da er aber in Sondershausen nicht ankam, besuchte uns die Polizei in unserer Wohnung. Immer wieder sprachen die Beamten mit unserer Mutter, mit unseren Bekannten und mit den Nachbarn. Sie fragten auch uns Kinder aus. Doch konnten weder mein Bruder noch ich ihnen eine befriedigende Antwort geben.

Nach einigen Wochen, es war noch dunkel an diesem Morgen, packte unsere Mutti in eine kleine Umhängetasche etwas Brot und etwas Kakao aus dem letzten Amerika Paket. Dazwischen steckte sie auch zwei Päckchen amerikanischer Zigaretten, als begehrtes Zahlungsmittel ein.

Schnell zog sie uns Kinder an und legte jedem ein silbernes Kettchen mit einem Amulett um. „Es kommt von der Oma und soll euch beschützen!“ „Warum soll es uns beschützen?“ fragte ich verschlafen zurück. Aber da zeigte sie nur mit ihrem Finger auf den Mund und ich verstand wieder einmal, dass ich zu schweigen hatte.

Etwas später saßen wir in einem kalten Zugwaggon auf abgeblätterten Holzsitzen. Wir fuhren durch eine sanfte, im Morgenlicht mild verzauberte Landschaft aus duftigen Laubwäldern und mattgrünen Weiden. Einige Kühe grasten dort im frühen Dunst. In der Ferne sah man spitze Kirchtürme aus geschlossenen Fachwerkdörfern ragen. Bis die sanfte Hügelkette allmählich in höhere Berge mit Laub- und Fichtenwäldern überging.

An den einzelnen Stationen stiegen, meist arbeitsmäßig gekleidete Mitreisende ein oder aus. Einige Frauen hatten versucht, mit uns Kindern in ein Gespräch zu kommen aber mein Bruder und ich drückten uns nur ängstlich fest an unsere Mutter.

„Sie fahren zu ihrer Oma!“ antwortete sie für uns.

Endlich kamen wir an dem letzten Bahnhof vor der Zonengrenze an. Hier waren wir nur noch die einzigen Fahrgäste geblieben.

Ein Grenzort und drei fremde Leute? Zurecht befürchtete unsere Mutter, dass wir in diesem kleinen Ort sofort auffallen würden. Darum stiegen erst nach einigen Stunden und bei Anbruch der Dunkelheit den Weg zu dem dunklen Häuschen hoch, wo eine Grenzführerin mit ihrer alten Mutter lebte.

Allerdings wollte die junge Schleuserin jetzt niemanden mehr über die Grenze führen! Es sei ihr zu gefährlich. Sie wäre schon zweimal verwarnt worden. Jemand hätte sie  der Polizei verraten.

Und gestern ist ein zwölfjähriger Junge dort erschossen worden! Wir sollten lieber gleich umkehren! Denn diese Schweine hätten nicht einmal Hemmungen, auf Kinder zu schießen! Sie schimpfte und schrie in einem rauen thüringer Dialekt auf unsere verzweifelte Mutter ein. Selbst ihre alte Mutter konnte sie nicht besänftigen.

Erst beim Anblick von uns Beiden, wurde sie schließlich doch noch weich und ließ sich überreden. „Na gut. Einmal werde ich‘ s noch machen!“, meinte sie, mit völlig veränderter Stimme.

Dann durften wir sogar auf ihrem breiten Sofa liegen und unsere Mutter kringelte sich in dem abgewetzten Lehnstuhl zum Schlafen zurecht. Draußen prasselte der Regen gegen die Fensterscheiben.

Plötzlich klopfte es heftig an die Haustüre und man hörte Männerstimmen rufen! „Aufmachen! Aufmachen, Grenzpolizei!“

Wir Kinder begriffen zuerst gar nicht, was dieser Lärm bedeutete. Wir hatten tief geschlafen.

Aber schon waren die junge Elsa und ihre Mutter bei uns im Zimmer. „Schnell, schnell, das sind die Grenzer! Jemand muss euch verraten haben. Steigt nur geschwind durch diese Luke.“ Die Alte leuchtete mit einer Taschenlampe in einen angebauten Heustadel hinunter. „Und lasst einfach dort hinab fallen! Aber deckt euch noch mit Heu zu. Falls sie in die Scheune leuchten!“

Wir Kinder waren danach wohl bald wieder in dem dichten Heu eingeschlafen, während unsere Mutter vor Angst und Kälte zitternd, daneben wachte. Drüben hörte sie das Getrampel der Stiefel von den Grenzsoldaten und die schrille Stimme der Elsa. Gegen 9 Uhr holte uns die junge Frau wieder aus dem Heustadel.

Auf dem Weg durch den ansteigenden Laubwald erklärte sie uns, wie wir vorzugehen hatten. Sie nahm dabei meinen kleinen Bruder an die Hand und half meiner immer noch aufgeregten Mutter, die Tasche zu tragen. Wir wanderten etwa 1 ½ Stunden. Dann blieb sie vor einem ansteigenden Waldweg stehen :

„Die Soldaten werden jeden Tag um 11 Uhr abgelöst. Um dreiviertel 11 gehen sie bereits ihrer Ablösung entgegen. In diesen 15 Minuten müsst Ihr es über dem Berg schaffen! Dort drüben, wo die freie Stelle im Wald ist, beginnt der Westen.“

Sie deutete noch auf einen Strauch in halber Höhe. „Bis dorthin solltet Ihr jetzt kommen. Dort könnt ihr euch auf den Bauch legen und die Soldaten beobachten. Es sind dann immer noch 10 Minuten.“

Auf allen Vieren krochen wir auf das Gestrüpp zu und lagen ganz flach unter den niedrigen Büschen. Wir sahen die beiden Grenzsoldaten, wie sie mit ihren Feldstechern rund um sich hin- und her blickten und sogar eine Weile auf unserem Versteck verharrten. Dann gingen sie weiter.

Auf einmal bemerkten wir zu unserem Schrecken, dass die Ablösung doch schon früher kam und dass die Soldaten zwei Schäferhunde mit sich führten.

„Oh Gott, stöhnte unsere Mutter. Sie haben Hunde!“

Die Grenzpolizisten standen sich jetzt gegenüber. Was würde weiter geschehen? Wir hatten keine 10 Minuten Zeit, wie die Elsa gedacht hatte! Und vor den Hunden konnte man sich sowieso nicht verstecken!

Doch dann passierte das Wunder, dass die neuen Grenzer die Hunde nicht mit auf ihre Patrouille nahmen, sondern sie ihren Vorgängern übergaben!

Wobei sich alle Vier noch weiter besprachen. Gerade so lang, dass wir aus unserem Versteck kriechen konnten, um ungesehen den nächst oberen Busch zu erreichen. Hier warteten wir, bis die neuen Wachen an uns vorüber waren und uns den Rücken zuwandten. Um sodann wieder auf allen Vieren auch das nächste Ziel zu erreichen. So ging es über den Hang hinauf, bis zu einem jungen Fichtenwald.

Hier dachten wir, endlich im Westen zu sein und krochen unter den niedrigen Zweigen hervor.

Ein Bauer pflügte gerade mit einem Pferd seinen Acker.

„Wo kommen Sie denn her?“ rief er und riss die Augen auf.

Mit feuchter Walderde verkleistert, boten wir sicher einen ungewöhnlichen Anblick!

„Nein, nein, hier ist noch nicht der Westen!“ klärte er uns dann auf.

„Das Holzhaus dort drüben gehört der russischen Wache. Die sind nur gerade auf Kontrollgang.

Laufen Sie, so schnell Sie können weiter! Gleich hinter der Hecke ist schon der Grenzschranken!“

J. A.

4 Kommentare

  1. Wirklich unglaublich, dass man so etwas mit kleinen Kindern schafft!
    Ich hätte mir so etwas nicht zugetraut…

    • Meine Eltern sahen die Flucht über die Grüne Grenze wahrscheinlich noch als letzten Teil
      der Vertreibung an. Außerdem wurde unserer Mutter erst während der ganzen Aktion klar, wie
      gefährlich es wirklich war. Aber vielen Dank für diese einfühlsamen Gedanken!

  2. Peter Claudia

    Hallo Frau Amthor!

    Für mich als ehemalige Pentenriederin ist es schön, Ihren Erinnerungen zu folgen, obwohl ich auch von meiner Familie schon viel darüber gehört hatte.

    • Wie schön, dass ich mit meinen Berichten die Erinnerungen an das alte Pentenried ein Wenig festhalten konnte! Pentenried ist, schon alleine durch seine Entstehung, ein besonderer Ort. Und ich kann mir vorstellen, dass Pentenried, selbst bei mancher Veränderung, wohl immer ein sehr liebenswerter Ort bleiben wird. Der Name Peter ist mir übrigens auch noch in guter Erinnerung! Mit herzlichen Grüßen! Ihre Johanna Amthor

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