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Weihnachtsflocken – Erzählung

Eine fremde Gegend

Missmutig starrte die alte Dame aus dem Fenster. Dicker Nebel hatte sich  in der Krone der alten Linde verfangen, so dass es aussah, als würden ihre kahlen Äste in den Himmel ragen. Und auch die Gräber des kleinen Friedhofs wirkten heute gespenstisch, mit den zerrissenen Nebelschleiern zwischen den Malen.

Sogar der Turm der alten Backsteinkirche verschwand im Nebel.

Am Vormittag war Irene Opitz noch über die sandigen Wege dorthin spaziert. Fremde Namen hatte sie unterwegs auf den Grabsteinen gelesen. Kein einziger kam ihr bekannt vor. Aber wie sollte sie diese Leute auch kennen? Nachdem ihr Mann und alle Freunde ja so viele Kilometer weit entfernt lagen.

Wie hatte sie nur so leichtsinnig sein können, in diese fremde Gegend zu ziehen!

Nur weil Sybille in der Stadt wohnt

Gestern noch, als ihre Tochter ganz unerwartet in der Tür stand, war sie vor Freude aufgesprungen. Sie dachte, ihre Kinder würden sie wieder zu Weihnachten abholen. „Wie schön, dass du schon da bist! Nehmen wir meine kleine Reisetasche?“
„Nein, bitte keine Tasche packen!” rief Sybille. “Ich bringe dir nur dein Weihnachts-Geschenk, weil Christian und ich über die Feiertage weg fahren.“ „Wie bitte? Was macht ihr?“ Die alte Dame wurde ganz blass. „Ihr wollt verreisen? Aber das geht doch nicht! Was sagen denn die Kinder dazu?“
„Liebe Mama!“ lachte da die Tochter. „ Anna und Tobias sind doch keine kleinen Kinder mehr! Die Beiden wollen heuer mit ihren Freunden feiern. Und wir haben Christians Eltern versprochen, dass wir zu ihnen kommen!”

„ Und ich? Was ist mit mir? Soll ich vielleicht über Weihnachten hier bleiben?“
„Ist das denn so schlimm?“ antwortete Sybille mit betont lustiger Stimme. „Du hast es hier  doch wunderbar! Du hast ein bequemes Zimmer, nette Pflegerinnen, gutes Essen. Warum willst du nicht einmal mit den anderen alten Leuten feiern? Bisher haben wir dich immer genommen. Diesmal sind Christians Eltern dran!“
„Oha? Da hattet ihr mich also bisher immer nur – genommen?“ flüsterte die alte Mutter. Sie suchte nach einem Taschentuch.
„Aber nein! Das war nur eben blöd von mir ausgedrückt. Natürlich haben wir uns jedes Mal gefreut, wenn du zu uns kamst!”
Sybille legte ihr die Arme um die Schultern. “Arme Mama, ich weiß genau, wie dir zumute ist! Aber ich kann Christian diese Bitte nicht abschlagen. Er hängt auch an seinen Eltern. Und sein Vater ist so schwer krank…“ Sie seufzte leise. „Unsere Ehe würde leiden.“
„Schon gut, Kind. Mach dir keine Sorgen!“ Langsam kehrte die normale Gesichtsfarbe wieder in Frau Opitz Wangen zurück.

Es schneit

Das war gestern gewesen. In der Nacht konnte die alte Dame trotzdem kaum schlafen. Und am Morgen kam sie sich unendlich alt und faltig und völlig überflüssig vor. Noch niemals hatte sie sich seit Hermanns Tod so einsam gefühlt, wie an diesem trüben Wintertag.

Draußen hörte man jetzt das Schnurren des Aufzugs. Dann rollten die harten Gummiräder eines Servierwagens durch den Flur. Das gestapelte Geschirr klimperte dabei leicht im Rhythmus gegen einander.
„Wieso bringen die jetzt schon das Abendessen?“ wunderte sich Frau Opitz. Aber es drang kein Geruch von Speisen durch die Etage, sondern nur ein ungewohnter Hauch nach Zimt und Nelken, nach heißem Punsch und nach feinem Gebäck. Für einen Augenblick dachte die alte Dame, dass sie vielleicht in den Speisesaal gehen sollte. Aber sie zögerte noch.

Die Äste der Linde ragten immer tiefer in den bleistiftgrauen Himmel. Und ein lähmendes Schweigen umhüllte die Landschaft. Auf einmal sah die alte Dame etwas, wie eine leichte Feder vor ihrem Fenster herabschweben. Und dann noch eine zweite Feder und gleich ein paar weitere dieser zarten Gebilde. Es waren riesige Schneeflocken, die der Wind aus dem finsteren Grau herunter wehte. Immer mehr solcher zarten Kristalle schwebten in sanften Kreisen durch die Luft. Fast sah es aus, als ob sie umeinander tanzen würden. Nach einer Weile wurden die Flocken schneller und fielen gezielter zu Boden. Schon konnte man die  dunklen Gräber in dem weißen Gewirbel nicht mehr erkennen.

Die alte Dame erinnerte sich plötzlich an einen Weihnachtsabend aus ihrer Kindheit. Als sie  mit ihren Eltern bei solchem Schneegestöber in die Kirche gegangen war, um ein Krippenspiel zu sehen. Immer kecker hatten sich die tanzenden Schneeflocken damals vor ihre Füße gesetzt. Und das kleine Mädchen war im Übermut darauf getreten und hatte versucht, die wirbelnden Sterne mit dem offenen Mund aufzufangen…

Elisabeta soll nicht allein gehen

Ein Klopfen an die Zimmertür riss die alte Frau aus ihren Träumen.
Im matten Flurlicht, sah sie zwei Personen stehen. Die größere war eine junge  Krankenschwester, die erst seit wenigen Wochen hier arbeitete. Die andere sah aus, wie ein kleines, trotziges Mädchen. Die Pflegerin wisperte hastig auf das Mädchen ein. Aber das Kind schüttelte immer nur den Kopf. Die Haare tief über die Augen gezogen, die Lippen zusammengepresst, schien die Kleine sich zu weigern, einen Teller mit Weihnachtsgebäck in Frau Opitz Zimmer zu tragen.
„Oh“, stotterte die alte Dame. „Ist das Ihre Tochter?“
„Ja, meine Tochter!“ schnaufte die Schwester. „Aber Elisabeta ist böse! Sie mag mir nicht helfen!”
“Warum denn nicht?” wollte Frau Opitz wissen.
“Der Spielkreis wird gleich ein Krippenspiel aufführen,” erklärte die Mutter jetzt etwas sanfter. “Aber Elisabeta kann nicht mitmachen, weil sie mit mir kommen musste. Schwester Regina ist krank geworden. Ich soll sie vertreten.“

Sie blickte aus dem Fenster. „Und ganz allein kann das Kind doch nicht zur Kirche gehen.“ fuhr sie fort. „Draußen schneit es und es wird bald finster sein!“

Die Lösung

„Was sollst du denn spielen?“ wandte sich die alte Dame dem Kinde zu.
„Ein Schaf!“ lispelte die Kleine.
„Hm?” Frau Opitz spürte ein Zucken um ihre Mundwinkel. “Ein Schaf ist eine ganz wichtige Rolle in einem Krippenspiel! So etwas kann man doch nicht einfach weglassen! Komm, lass uns schnell zusammen hinüber gehen!”

Und sie stand auf, um ihren Mantel aus dem Schrank zu holen.

Gratulation!

J. A.