Der Wandervogel – Geist

Über unserer ganzen Kindheit schwebte ein romantisches Bild, das man in den Konturen eines stilisierten Greifes, als wundersam verklärten Wandervogel – Geist bezeichnen könnte.

Wie schon berichtet, stammte die Familie meines Vaters aus dem kleinen Städtchen Flöhau, im Saazer Land. Umgeben von sanften Hügeln, von grünen Hopfengärten und von goldgelben Weizenfeldern. Verwunschen die Landschaft wohl auch durch die blühenden Obstbäume im Frühjahr und durch die wildreichen Wälder. Während der liebliche Goldbach, der das Tal durchtrennte, nach der Schneeschmelze in jedem Jahr, zum gefährlichen Strom anschwellen konnte.

So,  jedenfalls erklangen die Erzählungen der Eltern.

Über den Ort selbst hatte auch ich bereits geschrieben. Über die barocke katholische Kirche, die dem Heiligen Michael geweiht ist und den gepflasterten Hof mit den runden Linden. Auch hatte ich das Gasthaus zum Kaiser von Österreich ewähnt, aus dem meine Großmutter stammte.

Was ich sonst noch aus Vatis Erzählungen behielt, war die Flöhauer Mühle des Urgroßvaters, mit ihrem düsteren Mühlengang. Und auch das klopfende Geräusch des Holzes, wenn sich das schwere Mühlrad in seiner Tiefe drehte…

Natürlich kannte ich auch viele Erlebnisse aus Vatis Flöhauer Schulzeit, aus seinen Erzählungen.

In diese Schule, die man Volksschule nannte, ging mein Vater bis zur 4. Klasse. Das Lernen soll ihm leicht gefallen sein. Er war ein hervorragender Schüler. Gedichte konnte er sich sofort merken, wenn er sie nur einmal vor dem Untericht gelesen hatte. Kleine Texte las er schon vor der Einschulung und auch in der Natur- und Heimatkunde wusste er bereits mehr als viele andere Kinder seines Alters. Das lag wohl auch daran, dass ihn sein Vater bei jedem gemeinsamen Spaziergang im Freien unterrichtete. Ihm die Pflanzen und Tiere seiner Umgebung erklärte und ihn die Steine auf dem Weg bestimmen ließ.

Auch nahm er ihn mit in seine Ziegelei und versuchte ihm die Vorzüge der automatischen Hopfendarre*** zu erläutern, die seine Erfindung war. Anschließend prüfte er jedoch, was von diesem Unterricht noch hängen geblieben sei. Und wehe, wenn der Sohn sich etwas nicht richtig gemerkt haben sollte. „Du Nachtwächter!“ beschimpfte er dann den Kleinen mit drohendem Ton in der Stimme. „Du sollst zuhören, wenn ich dir was erkläre!“

Allerdings konnte der strenge Vater auch sehr großzügig sein. So erlaubte er schon dem kleinen Schulkind, sich eine weiße Ziege, ein zahmes Schwein und allerlei Vögel zu halten. Auch schenkte er ihm eine winzige, funktionsfähige Dampfmaschine zum Weihnachtsfest und später sogar ein richtiges Jagdgewehr.

Doch seine beiden Jagdhunde, den kleinen Dackel und den großen Vorstehhund, mochte der Vater noch lieber als seine Kinder. So schrieb der Junge einmal bitter in sein Tagebuch.

Denn sie gehorchten ihrem Herrn auf s Wort!

Wer sich dem Mann dagegen gar nicht unterordnen wollte, war seine Frau, die Mutter meines Vaters. Darum gab es auch immer wieder Machtkämpfe und Reibereien zwischen den Ehegatten. So dass mein Vater anfangs sogar froh war, als er nach der vierten Grundschulklasse, dem Elternhaus entfliehen konnte, um mit 10 Jahren in das Gymnasium nach Pilsen zu gehen.

Pilsen und der Wandervogel

Pilsen war schon damals durch das berühmte Pilsener Bier bekannt. Und als reiche Industriestadt, gehörte es zu den wenigen Städten im alten Kaisserreich, die sich ein modernes, mathematisch und naturwissenschaftlich ausgerichtetes Gymnasium leisten konnten.

Denn Mathematik und Geometrie, Französisch- und Englischkenntnisse, sowie das korrekte Tschechisch seien in diesem zweisprachigen Land doch die besten Vorraussetzungen für den späteren Beruf eines selbständigen Architekten! So dachte mein Großvater und das war sicher gut überlegt.

Aber leider hatte er nicht gefragt, ob sein kleiner Sohn überhaupt Architekt werden wollte? Und außerdem konnte er sich nicht in ein Kind einfühlen, das noch niemals von daheim weg gewesen war. Das bisher nur seine Familie, die Freunde, den Wald und die Tiere kannte.

Untergebracht war der Junge bei zwei alten Damen, die schon öfters Kinder bei sich aufgenommen hatten. Da sie beide aber als arme Witwen mehr oder weniger von dem Kostgeld lebten, waren die Mahlzeiten in dem Hause winzig klein. So dass mein Vater nicht nur mit seinem starken Heimweh, sondern auch mit einem ständigen Hungergefühl fertig werden musste.

Blick von der ehemaligen Löschner Zigelei auf auf Flöhau

Flöhau. Es ist Herbst und alles ist verändert.

Dazu kam noch der Kummer mit der Schule, wo er auf einmal nicht mehr der glänzende Schüler war, dem alles nur so zufiel. Denn, zu seinem Ärger, gab es in der neuen Klasse Söhne von reichen Hopfenbaronen, wie man sie nannte. Jungen, die schon als Kinder von einem französischen Kindermädchen aufgezogen, von einem englischen Lehrer unterrichtet und von den Kochkünsten einer tschechischen Köchin verwöhnt wurden. Und die darum vor allem in den sprachlichen Fächern besser waren als er.

Der Neid des Benachteiligten, vermischte sich so mit Heimweh und Bitterkeit. Und es gab wohl keinen unglücklicheren Schüler an dem ganzen Gymnasium als meinen Vater.

In dieser düstersten Zeit, gab es plötzlich eine Begegnung, die sein ganzes weiteres Leben bestimmen sollte!

Dazu schreibt er.

„Die erste Berührung mit dem Wandervogel* hatte ich in Pilsen. Ich besuchte die vierte Klasse Realschule (so hieß damals das naturwissenschaftliche Gymnasium) und aus einem Gespräch zweier Mitschüler hörte ich zum ersten Mal vom Wandervogel. Ich suchte Anschluss und eine Fahrt in die sonnige Herbstlandschaft, mit den Wandervogel-Führern Mai und Dirrmoser entschied über meinen weiteren Weg in den nächsten 8 bis 10 Jahren! Das war 1916 – 17 gewesen.“

Nach dem Abitur, das dort Matura hieß, ging es zum weiteren Studium nach Prag.

„Ich wohnte beim Karlsplatz und machte Orientierungs-Spaziergänge, um Prag kennen zu lernen. Und schon bald stand ich am Maltheserplatz. Da waren die Wandervogel Ortsgruppen „Vortrupp“ und „Alt-Prag“, die ihre Zusammenkünfte, ihre Nester, wie man es nannte, dort hatten.“

„ Alt-Prag“ wurde meinem Vater dann zum Schicksal. Viele abenteuerliche Wanderungen, Theateraufführungen, Chorauftritte und „Nestabende“ sollten sein Leben von da an bereichern und seine Gruppe ihm das Elternhaus ersetzen.

Vatis Wandervogel auf ihrem "Raubschiff" 1925

Interessant ist vielleicht dazu noch, dass es für diese jungen Menschen, die sich gegen jede militärische Uniform wehrten, doch eine gewisse „uniformierte Kleiderordnung“ gab.

„ Als wir uns zu unserer ersten Sonntagsfahrt trafen,“ schreibt mein Vater, „ hatte ich Schwierigkeiten mit meiner Garderobe…Und so kam ich dort im einzigen Anzug mit Stehkragen an! Das gab ein großes Gelächter, denn üblich waren nur der offene Schillerkragen und die Kniehose. Irgendwie gelang es mir dann, ein solches Hemd aufzutreiben und meine Tante** half mir dabei. Auch eine alte Onkelhose musste dran glauben und wurde zur Kniehose umfunktioniert. Sie passte mir gut, ja in den Augen der Wandervogel-Mädchen wurde ich sogar ein Vorbild – aber nur in Bezug auf die Hose!“

Unzählige Erlebnisse hat mein Vater uns später noch dazu berichtet. Und bis an sein Lebensende blieb er im Herzen ein romantischer Wandervogel. Dass es auch hier eine dunkle Zeit gegeben hatte, als die Nationalsozialisten 1938 den Wandervogel verboten und sogar Jagd auf ehemalige Wandervögel machten, soll nicht verschwiegen werden. Sechs bange Monate in deutscher Untersuchungshaft ließen auch ihn spüren, welche Mächte man sich ins Land geholt hatte.

J. A.

Anmerkungen

Der Wandervogel war eine Jugendbewegung, die zu Anfang des 20. Jahrhunderts vermutlich in Wien (nach anderen Quellen in Berlin Steglitz) aus den Abstinenz-  und Reformbewegungen entstand. Sie verbreitete sich schnell im ganzen deutschsprachigen Kulturraum. Die Wandervogelbewegung war überkonfessionell und stand im Gegensatz zu den schlagenden Studentenverbindungen. In Böhmen und Mähren wurde sie nach dem ersten Weltkrieg in vielen Gruppen auch politisch.

Bedeutende Persönlichkeiten waren im böhmisch-österreichischen Raum Walter Hensel (Räuber Janitschek) aus Prag, Hans Watzlik, Hans Mautschka, Dick Seff (der Urpachant) und Johannes Stauda. In Deutschland ging u. a. die Weiße Rose aus einer Wandervogelbewegung hervor.

* In Prag wohnte mein Vater als Student bei einer Schwester seiner Mutter, die auch am Wenzelsplatz ein Kaffeehaus besaß.

** Das alte Foto stammt vom Sonntag, dem 30. August 1925, Vatis Wandervögel mit ihrem „Raubschiff Seeteufel“  stechen in See

*** Die erste automatische Hopfendarre „die Löschner – Darre“ war eine wichtige Erfindung meines Großvaters. Sie ermöglichte den Hopfenbauern, die frischen Hopfenzäpfchen auch bei schlechtem Wetter zu ernten, ohne dass sie von der Feuchigkeit auf der Tenne schimmelig wurden. Der Hopfen behielt auch seine Qualität bei dieser Methode zu darren. Mein Großvater besaß damals ein Patent auf diese Erfindung. Heute hängt Großvaters Bild auch wieder im Saazer Hopfenmuseum.

Beitragsbild von xavi lópez (Wikipedia) – CC BY-SA 3.0, Link